Winternacht

"Was ist da drin?" fragt sie.

Ihr Name fällt mir nicht mehr ein. Wir haben uns vorhin in einer Bar kennengelernt. Hatten wir uns dort verabredet? Ich hab sie dort jedenfalls zum erstenmal gesehen, da bin ich mir sicher. Jetzt ist sie nackt. Das weiß ich auch ohne hinzusehen. Davor hat sie noch ein Korsett getragen, ein schwarzes und sie hat sich darüber beschwert, dass es zu fest geschnürt sei. Sie hatte noch mehr an, aber was genau weiß ich nicht mehr. Sie sah gut darin aus. Und ohne auch.

Ich höre wie sie durch das Zimmer geht. Dieses Zimmer – ich versuche herauszufinden ob ich bei mir in der Wohnung oder in einem Hotel bin, aber es funktioniert nicht. Wenn ich mich darauf konzentrieren will wo ich gerade bin verschwimmt es an den Rändern, die Erinnerung wellt sich, als würde sie angesengt und bevor ich sie erfassen kann ist sie samt der Frage verglüht.

"Was meinst Du?" frage ich und wende mich vom Fenster ab, vor dem seit langer Zeit eine Winternacht angehalten hat.

"Was ist denn in der Kiste?" fragt sie ausgelassen.

"Ich –" ich weiß es nicht. Aber das kann ich ihr nicht sagen. Die Truhe kenne ich schon. Die ist immer da. Sie steht seit ich denken kann schwarz in dieser Ecke. Dann ist das hier wohl doch kein Hotelzimmer, denn die Truhe und die Ecke in der sie steht sind mir vertraut.

"Darf ich die mal aufmachen?" Sie kniet sich vor die Truhe und streckt ihren blassen Hintern zu mir her. Genauso wie sie ihn mir vorhin hingehalten hat. Weshalb bin ich nicht nackt, sie aber schon? In meinen Ohren entsteht Druck, als würde ich in einem landenden Flugzeug sitzen. Von Draussen dringt mehr Dunkelheit in den Raum. Sie hat gefragt, ob sie die Truhe öffen darf. Auch das weiß ich nicht. Nur, dass ich sie noch nie aufgemacht habe. Aufmachen konnte. Oder wollte.

"Die ist verschlossen" sage ich ruhig und sehe im gleichen Augenblick, wie sie das Eisenband zurückschlägt, dass den Deckel an der Vorderseite der Truhe hält. Sie blickt mich an und lächelt wie ein Kind. "Hey, die ist überhaupt nicht verschlossen" ruft sie und mein Blick umfasst jetzt nur noch sie und die Truhe. Der Rest ist Nacht. Sie öffent den Deckel, wendet den Kopf und sieht ins Innere. "Mein Gott" flüstert sie, "ist das schön".

Jetzt fällt mir ein was gleich geschehen wird. Es läuft genauso ab wie ich es im Deja Vu sehe. Ohne den Blick vom Innern der Truhe zu nehmen steht sie halb auf, klammert sich mit den Händen an deren Holzwände und steigt dann langsam und umständlich in sie hinein. Ganz hinein. Bis ich sie nicht mehr sehe.

Danach ist es lange still. Und dunkel.

Draussen klingt eine Sirene auf und fährt vor dem Fenster vorbei. Das ist später und bringt mich zurück ins Zimmer. Es ist wohl doch ein Hotelzimmer, denke ich, während ich zu der Truhe in die Ecke gehe. Es muss ein Hotelzimmer sein, ich habe ein so begrenztes Gefühl. Ohne hinzusehen nehme ich den Deckel und schließe ihn langsam. Mein Blick ist jetzt wieder frei und wandert über das Bett und den kleinen Tisch. Ein zeitlich begrenztes Gefühl. Das Eisenband fällt von selbst nach vorne und verschließt die Truhe. Es ist eng in diesem Zimmer.

Dann stehe ich wieder am Fenster und sehe der Nacht dabei zu, wie sie reglos wartet. Wahrscheinlich habe ich das nur geträumt. Oder mir zusammengesponnen. Ich war gar nicht in einer Bar und da war auch gar kein Mädchen hier. Sie würde gegen die Truhe schlagen, wenn sie da wirklich drin wäre. Aber ich höre nichts.

Die Sirene ist jetzt schon lange verstummt. Im Moment weiß ich nicht, ob ich überhaupt etwas hören kann. Ich weiß es nicht. Es interessiert mich auch nicht. Und die Truhe – die gibt es gar nicht. Die gibt es jedenfalls nicht wirklich. Deshalb war sie mir auch so vertraut. Ich darf nur einfach nicht in die Ecke sehen, dann gibt es sie nicht. Dann lösen sich die Zweifel auf.