Der Hochstapler

Es klopft, ich geh zur Tür und mache auf. Draußen steht eine fremde Frau und lächelt.

"Hallo, ich bin die neue Nachbarin" sagt sie und hält mir ihre Hand entgegen. Ich greife zu und wir unterhalten uns eine Weile zwischen den Wohnungen, sie am Flur, ich in der Tür. Schließlich gesteht sie, dass sie Hilfe benötigt. Ein Spiegel ist aufzuhängen und so komme ich mit in ihre Wohnung. Es ist noch Nachmittag und der Spiegel hängt in weniger als einer halben Stunde. Danach sitzen wir mit zwei Weingläsern am Boden, reden bis das Reden nicht mehr reicht und bald darauf, nach ihrem dritten oder vierten Orgasmus, schlafen wir für eine Weile auf dem Parkett ein. Als ich aufwache, ist es schon Nacht. Die neue Nachbarin sieht mich an, lächelt und wir machen so weiter, die ganze Dunkelheit hindurch. Am Morgen kocht sie Kaffee, wir reden und alles ist gut. Zumindest scheint alles gut, bis sie dann, ich weiß nicht mehr weshalb und in welchem Zusammenhang, den Satz sagt.

"Man sieht nur mit dem Herzen gut" sagt sie und augenblicklich verschwimmt die Nacht auf dem Parkettboden in neblige Vergangenheit. Weiterhin höflich lächelnd trinke ich meinen Kaffee aus, rede mich auf meine Arbeit raus und gehe dann wieder in meine Wohnung.

Beim Duschen ärgere ich mich über meine Reaktion. Ein einziger Satz aus einem Kinderbuch lässt mich den Rückzug antreten. Andererseits, was soll der Satz? Man sieht nur mit dem Herzen gut - so ein Unsinn! Ich massiere mir das Shampoo fester ins Haar und murmle verärgert vor mich hin. Statt ihr Herz dafür zu loben, was es die ganze Zeit klaglos macht, nämlich zu schlagen, Blut aufzubereiten und es durch den Körper zu pumpen, meint meine neue Nachbarin also, sie könne mit dem Herzen sehen - eine Fähigkeit, die ich bisher nur den Augen zugeschrieben habe. Ein Herz kann nicht sehen, so nett das auch klingen mag. Aber selbst im übertragenen Sinne, als Metapher, hält der Satz einfach nicht her, denn was man damit sagen will ist ja wohl, dass man seinen Gefühlen vertrauen soll, denn die sind bekanntlich Herzensangelegenheiten. Wie aber jeder gesunde Mann über Dreißig unzweifelhaft bestätigen kann, sind es doch gerade die Gefühle, die einen in die größten Lebensmiseren überhaupt hineinlaufen lassen. Nein, das Herz sieht nicht und Gefühlsregungen sind grundsätzlich mit Vorsicht zu genießen.

Ich steige aus der Dusche und es klopft schon wieder. Schnell ziehe ich mir T-Shirt und Unterhose an und laufe zur Tür. Vielleicht ist sie es ja nochmal, denke ich, öffne und vor mir steht ein Junge im Schlafanzug und mit verwuschelten blonden Haaren.

"Bitte ... zeichne mir ein Schaf" sagt das Kind und drängt sich an mir vorbei in meine Wohnung.

"Halt!" sage ich, aber ich traue mich nicht, den Kleinen anzufassen und dann steht er auch schon in meiner Küche und sieht mich traurig an. "Wer bist Du denn?" frage ich.

"Na, der kleine Prinz" sagt der kleine Prinz und da erkenne ich ihn. Er ist es tatsächlich. Zumindest so tatsächlich, wie eine erfundene Figur tatsächlich sein kann. "Malst Du mir jetzt bitte ein Schaf?" sagt er sanft.

"Das tut mir leid, aber ich kann gar nicht zeichnen und..."

"...und Du glaubst nicht, dass man nur mit dem Herzen gut sieht, jaja" sagt er vorwurfsvoll.

"Woher weißt Du das denn jetzt?" frage ich ihn überrascht. Er zuckt nur mit den Schultern, steckt seine Hände in die Hosentaschen und sieht sich in meiner Küche um.

"Kann ich hier wohnen?" fragt er und betrachtet meinen Toaster als wäre der ein Raumschiff.

"Auf keinen Fall!"

"Es wäre nur für eine Weile, bis ich jemanden gefunden habe, der mir ein Schaf zeichnet - Du weißt schon, die Affenbrotbäume auf meinem Planeten."

"Verschone mich mit Deinen Märchen" unterbreche ich ihn. "Du kannst hier nicht bleiben, ich komme ja kaum mit mir selbst zurecht."

"Ich weiß" sagt er sanft und lächelt mich mitleidig an. "Du bist ein sehr trauriger und einsamer großer Mensch und hast schon lange nicht mehr den Duft einer Blume in Dein Herz gelassen."

"Jetzt mal langsam, kleiner Mann. Ich bin überhaupt nicht traurig, Du kannst Dir Deine tragischen Adjektive gerne in Deine Schlafanzugtaschen stecken, mit mir haben die jedenfalls nichts zu tun. Und einsam bin ich auch nicht, ich bin nur eben gerne allein und krieg meine Dinge selbst geregelt, das vermeidet Missverständnisse und unnötige Meinungsverschiedenheiten mit Mitbewohnerinnen."

Der kleine Prinz ist, ohne mir zuzuhören, auf den Stuhl geklettert und sieht aus dem Küchenfenster. "Siehst Du hier den Sonnenuntergang?" fragt er.

"Mensch Junge, wo kommst Du denn her? Das da Draußen ist ein Hinterhof, die Sonne scheint da morgens ein paar Stunden rein, das war's dann aber auch. Sonnenuntergänge gibt's in der Wildnis, auf dem Dorf, dem Land, Du weißt schon, wo man noch dem Mittelalter nachweint, oder der Steinzeit. Das hier ist eine Stadt, eine Großstadt - wir haben uns vom Sonnenuntergang emanzipiert. Hier spielen wir Zivilisation."

"In der Wüste gibt es schöne, lange Sonnenuntergänge" nörgelt er mit seiner traurigen Stimme weiter.

"Ja, in der Wüste, da gibt es auch kein Kino, kein fließend Wasser, keine Kneipen, keine Universitäten, demnach auch keine Studentinnen, man kann sich weder Seife noch Sojamilch kaufen, es gibt keine Häuser, deren Architektur man bewundern kann, keine Parks, Museen, U-Bahnen - Buchhandlungen und Bibliotheken gibt es in der Wüste auch nicht, in denen das Buch zu haben wäre, aus dem Du gestiegen bist."

"Und Blumen auch nicht" sagt er, ohne auf meine Kritik einzugehen.

"Ja, Blumen gibt's da wahrscheinlich auch nicht - aber Deine Blumenfixierung ist schon ein wenig extrem, findest Du nicht?"

"Der Duft meiner Blume..."

"Schluss jetzt!" falle ich ihm ins Wort. "Ich habe Dein Buch gelesen und es noch nie so richtig gemocht, Du bist mir zu tragisch beschrieben, Du bist eine weinerliche Metapher auf das Leben, die sich in den letzten Jahrzehnten auf furchtbare Weise verselbständigt hat. Überall laufen jetzt Menschen rum und zitieren, ein, zwei Sätze aus Deiner Geschichte und meinen, sie wüssten, was in dieser Welt falsch läuft. Man kann mit keiner Frau mehr schlafen, ohne dass Deine kindliche Einfältigkeit nicht irgendwo im Raum hinge. Wenn Du Dir nicht schleunigst eine etwas bodenständigere, verlässlichere Sprache zulegst, dann -"

"Dann?" er sieht mir direkt in die Augen und ich glaube, er lächelt herausfordernd.

"Dann informiere ich das Jugendamt."

Er richtet seine Augen auf die Tischplatte, klettert dann, ohne noch einmal mit den Schultern zu zucken, vom Stuhl und geht zur Tür. "Na gut, wenn Du nicht zeichnen kannst, dann muss ich mir jemand anders suchen, der mir ein Schaf malt" sagt er, drückt die Klinke runter und verschwindet aus meiner Wohnung.

Ich ziehe die Tür hinter ihm zu und trotte zurück ins Badezimmer. Während ich mir die Zähne putze, frage ich mich, ob das alles wirklich geschehen ist. Dass der kleine Prinz bei einem vorbeikommt erscheint schon etwas gewagt, dass man ihn aber durch die Erwähnung des Jugendamts wieder aus der Wohnung hinaus bekommt, macht die surreale Geschichte ganz und gar unglaubwürdig. Ich spüle mir den Mund, blicke in den Spiegel und kann meinem Anblick ohne existenzbedrohende Schamgefühle standhalten. Nur die letzte Nacht sieht man mir noch an. Gerade will ich mir aufmunternd zulächeln, da klopft es schon wieder.

Immer noch in Unterwäsche gehe ich zum dritten Mal an die Tür, öffne und vor mir steht ein Kerl aus den 60ern, jedenfalls ist er so angezogen - abgewetzter Anzug, weißes Hemd, Krawatte und ein Schlapphut, der sein Gesicht in Schatten legt.

"Prinz?" fragt er, während er auf die glimmende Zigarette in seiner Hand blickt.

"Was?"

"Sind Sie Prinz?"

"Nein, weder bin ich ein Prinz, noch heiße ich so. Mein Name steht vorne auf der Tür."

Er nickt, sieht weiter auf seine Zigarette und denkt scheinbar nach.

"Aber sie kennen Prinz" sagt er schließlich.

"Sind Sie vom Jugendamt?" frage ich.

Er lacht kurz auf, was sehr rau klingt. Dann sieht mich an. "Nein, solche Fälle nehme ich nicht an. Keine Scheidungen, keine Geschichten mit Kindern. Kennen Sie Prinz nun oder nicht?"

"Hören Sie, ich habe keine Ahnung wer Sie sind und ich weiß auch nicht, was es Sie angeht, aber hier war vor ein paar Minuten ein kleiner Junge, der..." ich zögere, weil ich die dämlich klingenden nächsten Worte nicht über meine Lippen bringe.

"Der was?" fragt der Fremde.

"Der hat gesagt, er hieße Prinz" formuliere ich es so neutral wie möglich.

"Ein Junge?"

"Ja, ein kleiner Junge, vielleicht sieben Jahre alt."

"Und seine Eltern?"

"Die waren nicht bei ihm - ich habe keine Ahnung, wo die sind."

"Was wollte er?"

"Na ja, ich glaube, er hat nach jemanden gesucht, der mit ihm spielt, aber ich hatte keine Zeit und da ist er wieder gegangen."

"Und wo ist der Junge jetzt?" fragt der Fremde weiter.

"Ich weiß nicht. Er wollte gehen und ich habe ihn nicht daran gehindert."

Der Kerl aus den 60ern nimmt endlich einen Zug von seiner Zigarette, bläst den Rauch in den Hausflur und starrt dann abwesend auf die Tür meiner neuen Nachbarin. "Ok," sagt er, "fassen wir zusammen: Ein etwa siebenjähriger Junge hat an Ihre Tür geklopft, sich als Prinz ausgegeben und Sie haben das Kind wieder gehen lassen. Das ist alles?"

Ich überlege, ob ich ihm die Geschichte vom kleinen Prinzen erzählen soll. So wie der Typ vor mir steht, mag er Märchengeschichten ebenso wenig wie ich. Also lasse ich das lieber und sage einfach: "Ja, das ist alles."

"Na schön. Hören Sie, wenn das Kind nochmal vorbeikommt oder seine Eltern, vor allem sein Vater, dann wäre ich Ihnen dankbar, wenn Sie sich bei mir melden. Hier", er holt eine Visitenkarte aus seinem Jackett und reicht sie mir, "wenn niemand ran geht, versuchen Sie einfach 'ne Stunde später nochmal."

Ich sehe mir die Karte an. Das Büro des Fremden ist in Apartment 615 im 6. Stock des Cahuenga Buildings in Los Angeles. Sein Name ist Philip Marlowe.

"Marlowe? Was machen Sie hier? Mitten in Europa?" Mir fällt keine andere Frage ein – ich will ihn nicht darauf ansprechen, dass er heute schon die zweite Romanfigur ist, die an meine Tür klopft. Er sieht nicht so aus, als würde man ungeschoren davonkommen, wenn man ihm seine reale Existenz absprechen würde.

"Komplizierte Geschichte" sagt er.

"Wollen Sie was trinken?" frage ich.

Er überlegt kurz, sieht mich an, zieht nochmal an seiner Zigarette und schüttelt dann den Kopf "Sonst gern, aber ich muss Prinz finden. Mit dem Typen ist nicht zu spaßen, ein Hochstapler, der notfalls auch zur Waffe greift. Seien Sie vorsichtig. Wenn die Sache vorbei ist, dann komme ich gerne auf das Angebot zurück."

Dann dreht er sich um und geht die Treppen hinunter. Ich bleibe noch eine Weile stehen und warte. Nichts rührt sich. Als ich gerade wieder in meine Wohnung gehen will, höre ich ein seltsames, langgezogenes Geräusch, das aus der Wohnung meiner neuen Nachbarin zu kommen scheint. Ich überlege kurz, ob ich sie fragen soll, ob alles bei ihr in Ordnung ist. Aber für diesen Vormittag hatte ich bereits ausreichend soziale Kontakte und ich will mich auch nicht zu schnell wieder bei ihr melden, das brächte sie am Ende noch auf falsche Gedanken. Langsam schließe ich die Tür und ziehe mich fertig an.

--

Drei Tage später klopft es erneut. Ich gehe zur Tür, öffne und vor mir steht ein unrasierter Mann in einer blauen Jacke, dem eine große Zahl durchsoffener Nächte ins Gesicht geschrieben steht. Über seine Schulter hängt eine Ledertasche und in der rechten Hand hält er ein Paket.

"Guten Tag," sagt er höflich, "ist es ok für Sie, ein Paket für Ihre Nachbarin entgegen zu nehmen? Da scheint niemand zu Hause zu sein." Er deutet mit dem Paket auf die Tür nebenan.

"Sie sind aber nicht von der Post," sage ich, "die haben da andere Uniformen."

"Sie sind ja ganz schön misstrauisch" sagt er und erzählt mir nicht, woher er kommt. Aber das weiß ich auch so. Wer immer sich die Geschichte ausdenkt, in die ich da geschlittert bin, er oder sie hantiert zu offensichtlich mit den Attributen meiner Besucher.

"Wie wär's mit einem Bier, Chinaski?" frage ich.

Er grinst und nickt. Wusste ich doch, dass er nicht so zurückhaltend sein würde wie Marlowe.

Drei Bier später habe ich ihm die Geschichte mit dem kleinen Prinzen und Marlowe erzählt. Sein ganzer Kommentar war ein tonloses "M-hm", worauf ich uns noch zwei Flaschen aufgemacht habe.

Wir sitzen an meinem Küchentisch und ich drehe das Paket in meinen Händen. Zum ersten Mal sehe ich den Namen meiner Nachbarin – er erinnert mich an keine Figur aus einem Buch, sie scheint von dieser Welt zu sein. Das Paket ist aus dem üblichen, dunkelbraunen Pappkarton. Der Poststempel ist verwischt, ein Absender nirgends zu finden. Nachdem ich es genau untersucht habe, lege ich es auf den Tisch. Stumm liegt es dort und stumm sehen Chinaski und ich es an.

"Was da wohl drin is'" überlegt er laut.

"Eigentlich ist das kein richtiges Paket" sage ich. "Ich meine, es kam ja nicht mit der Post. Nichts gegen Sie, Chinaski, aber Sie sind ebenso wenig ein hiesiger Postbote wie ich Quantenphysiker."

"Schon ok," sagt er. "Und lass' das alberne Chinaski. Ich bin Hank."

Wir prosten uns zu und trinken. "Und ein Zufall ist es eh auch nicht, dass dieses Paket gerade von Dir an meine Tür gebracht wurde."

"Reimst Du Dir jetzt einen tieferen Sinn zusammen, damit Du die Kiste aufschneiden kannst, ohne Dich schlecht zu fühlen?" fragt er.

Wir halten uns eine Weile schweigend an den Bierflaschen fest und starren weiter das Paket an. Schließlich steht Hank auf, geht zum Küchenschrank und nimmt das Brotmesser. "Wenn Du das jetzt nicht machst, dann muss ich wohl dafür herhalten" meint er. Ich nicke, halte ihm das Paket hin und er schneidet mit ruhiger Hand die Klebestreifen entzwei. Der Deckel geht auf, dahinter ist zusammengeknülltes Zeitungspapier zu sehen. Wir zögern kurz.

"Jetzt ist es offen, also schauen wir auch rein" sagt er und wirft entschlossen die oberste Schicht Papier auf den Boden, sieht auf den Inhalt, dann auf mich, dann wieder auf den Inhalt und pfeift schließlich durch die Zähne. "Da hat sie sich ja ein ordentliches Unterhaltungsprogramm bestellt." Er holt einen monströs großen, fleischfarbenen Dildo aus dem Paket hervor.

Wir starren beide auf die mehrfache Übergröße in seiner Hand und setzen uns schließlich wieder, um weiterzutrinken. Wir wissen beide, dass die Entscheidung längst getroffen ist, es stellt sich nur die Frage, wie viele Biere wir noch trinken werden, bevor wir meiner Nachbarin einen Besuch abstatten.

Hank leert seine Flasche und macht eine auffordernde Kopfbewegung. "Los jetzt – eine Dame wartet!" Ich packe den Dildo in die Kiste zurück und mache mir erst gar nicht die Mühe, diese wieder sauber zu verschließen. Kurz darauf stehe ich hinter Hank, der an die Wohnung meiner Nachbarin klopft.

Von Drinnen hören wir ein Geräusch, das wie ein langgezogenes Ächzen klingt, dann Schritte und als die Tür aufgeht, steht vor uns ein circa zwanzigjähriger Kerl in einer blauen Stoffhose, barfuß, mit nacktem Oberkörper. Sein blondes Haar ist verwuschelt und am Kinn wachsen ihm ein paar Haare, von denen er wohl gerne hätte, dass sie als Bart durchgingen.

"Scheiße," entfährt es mir, "wie bist Du denn so schnell erwachsen geworden?"

"Ach, der große Mensch," begrüßt mich der kleine Prinz, "was macht die Zivilisation?" Er sieht auf übertriebene, fast störende Weise durchtrainiert aus, sein Lächeln ist selbstgefällig und beinahe wirkt er bedrohlich, wie er da so im Türrahmen steht. Noch bevor ich fragen kann, wie er denn in die Wohnung meiner Nachbarin gekommen ist, hören wir aus dem Inneren der Wohnung erneut das schwere Ächzen einer Frauenstimme. Der nicht mehr kleine Prinz nimmt mir das Paket aus der Hand, sagt "Danke, die Herren" und will die Tür schließen, doch Hank ist schneller und schiebt seinen Fuß in den Spalt. Wir werfen unsere Oberkörper zugleich gegen die Tür, die fliegt auf, der Prinz landet an der Wand und bleibt dort liegen, während Hank und ich ins Wohnzimmer laufen.

"Ja leck mich" entfährt es Hank, als er sieht, was ich auch sehe. Das Parkett, auf dem ich vor ein paar Nächten noch geschlafen habe, ist nun mit zerfetzten Rosen übersät, Blütenblätter und Stängel liegen durcheinander, genauso wie die zerrissenen Seiten mehrerer Bücher. In einer der Ecken steht eine Pfütze und dem Geruch nach zu urteilen, wurde dort vor kurzem hin uriniert. Rechts an die Wand hat jemand einen seltsamen Baum gemalt, mit einem dicken Stamm und albtraumhaften, knorrigen Zweigen. Davor kniet meine Nachbarin auf allen Vieren – sie ist nackt, ihr Rücken blutet, offensichtlich hat der ehemals kleine Prinz dort die Rosen zerschlagen. Sie geht immer wieder mit ihrem Mund an die Wand und es sieht so aus, als wolle sie den Baum beißen. Dabei gibt sie das Geräusch von sich, dass von Draußen wie ein Ächzen klang – hier, im Wohnzimmer, klingt es mehr wie ein gequältes Blöken.

Hank macht den ersten Schritt in das Chaos. Er bückt sich und hebt den Teil eines hellblauen Buchumschlages auf, der vor ihm liegt. "Post Off" kann man darauf noch lesen.

Gerade als ich mich um die Nachbarin kümmern will, packt mich von hinten eine Hand, dreht mich um und noch bevor ich etwas erkennen kann, trifft mich die Wucht mehrerer Abrissbirnen am Kinn und schleudert mich durch den halben Raum – ich bleibe knapp neben der Urinpfütze am Boden liegen und mein Körper fühlt sich an, als würde ich mich nie mehr wieder bewegen können.

Prinz steht jetzt vor Chinaski, der macht einen schnellen Schritt zurück und streckt seine Fäuste vor. Nun sieht er nicht mehr wie der verkaterte Postbote aus, der vorhin an meiner Tür stand, man sieht ihm an, dass er einige Jahre seines Lebens im Boxring verbracht hat. Hanks Rechte fährt vor, trifft Prinz an der Schulter und der hebt seine Arme schützend vors Gesicht.

"Hat Dir das nicht gereicht, hm?" zischt Chinaski zwischen seinen Zähnen hervor, während er versucht, die Deckung des Prinzen mit harten Schlägen zu durchbrechen. "Kaum lässt man so Typen wie Dich", er trifft Prinz an der Niere - ich weiß nicht, ob solche Schläge offiziell erlaubt sind, "ein paar Tage aus den Augen, schon verwandeln sie sich vom weinerlichen Kleinkind", er landet einen Treffer an der Schläfe, Prinz torkelt rückwärts auf mich zu, "in den verdammten Marquis de Sade!" Hank schreit und holt zum Kinnhaken aus, da springt ihn von Hinten meine Nachbarin an, krallt ihre Fingernägel in sein Gesicht und reißt ihn zu Boden.

Ich versuche aufzustehen, aber es gelingt mir nicht, ein brennender Schmerz in meiner Wirbelsäule reißt mich wieder nach unten. Für den Moment muss ich wohl darauf verzichten, Hank zu helfen. Auf allen Vieren schleiche ich mich an dem am Boden liegenden Prinzen vorbei, durchquere das Wohnzimmer, in dem sich Hank nun mit meiner Nachbarin durch die Überreste von Büchern und Rosen wälzt und verschwinde schließlich ins Treppenhaus und von dort in meine Wohnung.

Die Tür fällt zu, ich drehe den Schlüssel um und richte mich langsam auf. Mein Rücken ist eine Flammenhölle, aber ich schaffe es bis zum Sicherheitsschloss und verriegle es. Mit einer Hand an der Wand gestützt, taumle ich zum Telefon und wähle eine Nummer in Los Angeles.

--

"Ja?" Marlowes Stimme klingt gelassen.

Meine nicht: "Prinz ist aufgetaucht, er ist in der Wohnung nebenan und so wie es aussieht, hat er meine Nachbarin und Chinaski in seiner Gewalt."

"Wo sind Sie jetzt?"

"In meiner Wohnung."

"Bleiben Sie dort – schließen Sie ab. Mit Prinz ist nicht zu spaßen. Ich bin so schnell wie möglich bei Ihnen." Er legt auf und ich habe keine Ahnung, wie lange er unter den gegebenen, unwirklichen Umständen, von Los Angeles bis zu meiner Wohnung brauchen wird – höchstwahrscheinlich aber zu lange für Hank.

Auf dem Küchentisch liegt das Brotmesser, mit dem wir vor kurzem noch das Paket geöffnet haben. Ich überlege, ob ich es als Waffe verwenden soll, lasse das dann aber lieber sein – ich habe zu viel Schiss davor, dass Prinz mich überwältigen und das Messer gegen mich verwenden könnte. Langsam strecke ich meinen Rücken durch – die Schmerzen kommen direkt aus der Hölle, ich muss sie irgendwie abdämpfen, sonst schaffe ich keine zwei Schritte.

Mir fällt der Gin ein, den ich gestern für den Fall gekauft hatte, dass Marlowe doch nochmal zurückkommen würde. In weniger als zwei Minuten habe ich mir die halbe Flasche in den Körper gepumpt und kann wieder aufrecht stehen. Na also! Die Möglichkeit, mich alleine in die Nachbarwohnung zu wagen und dort für Recht und Ordnung zu sorgen, erscheint mir nun, möglicherweise Dank des Alkohols, realistisch.

Ich missachte also Marlowes Ratschlag, schließe meine Türe auf und schleiche durch den Flur. Aus dem Wohnzimmer meiner Nachbarin dringt genug Lärm, so dass ich mich weiter vorwage und darauf hoffe, nicht gehört zu werden.

"Was soll der ganze Mist mit den Rosen eigentlich?" höre ich Hank.

"Mein Schaf muss doch lernen, dass es keine Blumen fressen darf – nur die Affenbrotbäume auf meinem Planeten. Schließlich darf es meiner Blume nichts zuleide tun." Prinz imitiert die unschuldig klingende Stimme seiner eigenen Kindheitsausgabe und lacht dann.

"Oh Mann, Du hast sowas von einen an der Birne, Junge. Glaubst Du, mit dem Mist kommst Du durch? Die Fortsetzung verlegt Dir keiner!" höre ich Hank.

Vorsichtig beuge ich mich vor und werfe einen Blick ins Wohnzimmer. Chinaski sitzt an der gegenüberliegenden Wand, er ist mit den Händen an die Heizung gefesselt und über sein zerkratztes Gesicht läuft Blut. Prinz hat mir den Rücken zugekehrt und tätschelt das Hinterteil meiner Nachbarin, die still und immer noch auf allen Vieren, den riesigen Affenbrotbaum an der Wand anstarrt. In der anderen Hand hält Prinz den Dildo, der mir wohl samt Paket bei der Erstürmung der Wohnung runtergefallen ist.

"Du brauchst Dich nicht beschweren, alter Mann, in Deinen Geschichten geht's ja auch zur Sache! Aber versetz Dich doch mal in meine Lage! Ich laufe seit über 50 Jahren als Kind in der Wüste herum – kannst Du Dir den Zustand meines Hormonhaushaltes vorstellen?" Er schiebt einen Fuß zwischen die Beine meiner Nachbarin und tritt sie ihr auseinander – sie schreit auf, bleibt aber am Boden knien. "Braves Schaf – jetzt wollen wir mal sehen, was Du noch alles kannst" sagt er zu ihr.

"Und wie hast Du sie rumgebracht?" Hank beginnt an seinen Fesseln zu zerren.

"Das ist einfach -," Prinz blickt auf den Rücken meiner Nachbarin, soweit ich es von meiner Position aus erkennen kann, hat er fast wieder etwas Unschuldiges an sich, "es gibt genügend Leute, die sich durch mein Gerede einlullen lassen. Ich brauche nur an einer Tür zu klopfen, zu warten bis jemand aufmacht und nach einer Minute weiß ich, ob der andere meine Geschichte kennt. Meistens reicht es, ein paar Sätze aus dem Buch zu wiederholen – 'man muss sich die Dinge erst vertraut machen', 'man sieht nur mit dem Herzen gut, das Wesentliche ist für die Augen unsichtbar', oder einfach auch nur 'mal mir ein Schaf'. Die Leute sind ganz scharf auf das Zeug, können es nicht oft genug hören und machen alles, damit ich nicht damit aufhöre. Da, siehst ja selbst" sagt er und kniet sich zwischen die Beine seines Opfers.

"Hypnose, hä?" Hank zieht und reißt an den Fesseln, während Prinz den Dildo platziert.

"Was weiß ich, ich kenn mich da nicht ..."

"Das reicht jetzt" sage ich und stelle mich in den Türrahmen. Hank sieht zu mir hoch, grinst und ächzt: "Na endlich!" Prinz zuckt zusammen, lässt den Dildo fallen und steht langsam auf. "Hast Du noch nicht genug Prügel eingesteckt, großer Mensch?" fragt er.

"Ich versteh ja, dass Du eine schlimme Kindheit in der Wüste hattest, Prinz, aber hier überziehst Du Deinen Interpretationsspielraum gewaltig. Du bist ein kleiner Junge aus einem Kinderbuch, da gehörst Du auch hin und ..."

"Pah!" Er steht jetzt mit nacktem Oberkörper und wütendem Gesicht vor mir. "Ich werde nicht nur von Kindern geliebt - misch Dich nicht in meine Angelegenheiten!"

"Halt den Rand!" fahre ich ihn an. "Das trübe Gewäsch in Deinem Buch ging mir schon immer auf die Nerven und dass erwachsene Menschen auf sowas reinfallen, werde ich nie verstehen, aber dass Du jetzt auch noch hier auftauchst und Deine gutgläubigen Leser missbrauchst, das hat nichts mehr mit Literatur zu tun," ich stelle mich vor ihn hin und sehe ihm tief in seine Augen, "das ist doch nur noch billiger Schund."

"Da hat er recht." sagt eine Stimme hinter mir. Ich drehe mich um und meine Knie werden weich - zum ersten Mal in meinem Leben blicke ich in den Lauf einer Pistole. Marlowe bewegt seine Hand ein Stück zur Seite und zielt wieder auf den Prinzen. "Was ist, muss ich Dir Handschellen anlegen?" fragt er ihn.

Prinz sieht mich an, in seinen Augen schimmert etwas, das nicht mehr wie Wut aussieht. "Schund?" fragt er und seine Stimme klingt wieder aufrichtig traurig.

"Haut dem Dreckskerl eine rein, das ist nur wieder einer seiner Tricks!" ruft Hank dazwischen.

"Ruhe, Chinaski!" Marlowes Tonfall bringt sogar Hank zum Schweigen.

Prinz zuckt mit den Achseln und wird dann vor unseren Augen immer kleiner. Nur seine Augen sehen uns weiter groß an. Für einen Moment glaube ich, darin Sterne und fremde Welten funkeln zu sehen und habe das Gefühl, mit ihm schrumpfen zu müssen. Marlowes Hand packt mich an der Schulter. "Hier geblieben!" sagt er und als ich mich wieder unter Kontrolle habe, steht vor uns ein kleiner Junge im Schlafanzug mit verwuschelten Haaren.

"Hier..." sagt er und reicht mir eine Rose, "Das ist alles ..." Dann geht er zum Bücherregal und verschwindet mit einem kleinen, gelben Blitz irgendwo zwischen den Seiten. Ich stehe im Wohnzimmer meiner Nachbarin und weiß nicht, wie ich mich fühlen soll.

Marlowe steckt die Waffe weg und wendet sich Hank zu, "So, Chinaski, jetzt zu Ihnen." Er beugt sich zu ihm runter und macht seine Fesseln los. "Ich habe da ein paar Fragen wegen eines Überfalls auf die Kasse der Pferderennbahn im Santa Anita Park ..."

Hank verdreht die Augen: "Damit habe ich nichts zu tun."

"Glaub ich Dir sogar, Chinaski – aber vielleicht fallen Dir ja noch ein paar Namen ein, die was damit zu tun haben könnten. Es gibt 'ne nette Bar in den Hollywood Hills, da kann man gut über solche Dinge nachdenken."

"Die letzte nette Bar in den Hollywood Hills hat in den 60ern dicht gemacht. Aber das macht nichts, es gibt eine Menge anderer brauchbarer Kneipen. Wir können gerne einen trinken gehen, Schnüffler."

Marlowe legt seinen Arm um Hank und sie verlassen beide die Wohnung, ohne sich von mir zu verabschieden. Wahrscheinlich wirke ich zu absurd für sie, wie ich hier stehe, mit meiner Rose in der Hand.

Ich lege die Blume aufs Fensterbrett und knie mich zu meiner Nachbarin auf den Boden. Sie schüttelt ein paar Mal verwirrt den Kopf, reibt sich die Augen und sieht mich dann an. Wir küssen uns.

"Du..." sagt sie.

"Ja?"

"Wie der Typ mir die Rosen auf dem Rücken zerfetzt hat..."

"Ja?"

"Das war schon richtig geil."

--

Es klopft an der Tür. Ich öffne. Vor mir steht ein Pärchen, beide um die 25, unauffällig gekleidet. Sie lächeln mich mit identischen Gesichtsausdrücken an.

"Was gibt's?" frage ich.

"Wussten Sie, dass nur 144.000 Menschen das unsterbliche Leben im Himmel erlangen können?" sagt sie mit engelsgleicher Stimme. Während er noch "Wollen Sie nicht einer davon sein?" hinterher haucht, habe ich die Tür schon wieder geschlossen.

"Wer war das denn?" ruft meine Nachbarin.

"Zu fantastisch, Liebling, zu fantastisch." sage ich und gehe zu ihr in mein Schlafzimmer.