Der Besucher

Wenn ich das Gebäude betrete, lege ich manchmal den Kopf in den Nacken und versuche bis an die Decke zu sehen. Im Nachmittagslicht dreht sich die breite Treppe über mir um und um, bis zu einem Punkt, an dem das scheinbar immer enger zusammenlaufende Geländer und ein verwaschenes Gelb mich unsicher machen, ob ich tatsächlich ganz hinauf sehe oder mir die Höhe des Gebäudes einen Streich spielt und sich mir der oberste Punkt durch eine Täuschung entzieht. Dann beginne ich vom Erdgeschoss her die Stockwerke zu zählen, aber egal wie sehr ich mich auch konzentriere, ich kann die höheren Etagen bald nicht mehr auseinander halten und bringe, den Kopf immer noch zurückgelegt, die Zahlen durcheinander. Spätestens dann muss ich meine Augen auf den Boden vor mir richten, um nicht zu torkeln.

Die Muster und Farben des Teppichs, der auf der Treppe und den Fluren liegt, sind durch die Schritte zahlloser Fremder verblichen. Der Teppich mag nicht mehr neu sein, aber er verschluckt weiterhin jedes Geräusch, so dass es im ganzen Gebäude still ist. Egal wann ich hierher komme, nie ist jemand zu hören oder zu sehen und manchmal, während ich die Treppen einige Stockwerke hinauf gehe, habe ich den Eindruck, der einzige Mensch hier zu sein. Aber das stimmt nicht, ich bin hier nicht alleine. Dieses Haus hat viele Besucher, auch wenn ich keinen davon zu sehen bekomme.

Man könnte meinen, dass es sich bei dem Gebäude um ein Hotel handelt – alle Flure sehen gleich aus, braune Türen reihen sich links und rechts an dunkelroten Wänden hintereinander und es dauert meistens, bis ich unter all den gleichaussehenden die richtige Tür gefunden habe. Aber sowohl die Zimmer als auch die Etagen sind nicht durchnummeriert, es gibt auch keine Rezeption und in keinem der Räume steht ein Bett. Das Gebäude ist auch kein Gefängnis, denn hier gibt ebenso wenig Wärter und Pritschen wie Zimmermädchen und Betten.

Wenn ich den Raum erreicht habe, öffne ich die Tür, trete ein und stehe im Dunklen. Mittlerweile finde ich mich darin sehr gut zurecht – das Zimmer ist länglich, ich schätze vier auf sechs Meter, die Tür liegt im hinteren, linken Eck und der Schreibtisch sowie der Holzstuhl, auf den ich mich setze, stehen im vorderen Teil. Mehr gibt es hier nicht – keine Fenster, keine anderen Möbel und auf dem Schreibtisch liegt nur ein Stapel unbeschriebenes Papier. Den Füller habe ich selbst bei mir. Da sitze ich dann, blicke durch das Dunkel auf die Wand vor mir und warte.

Nach einiger Zeit höre ich das leise Kratzen aus einem der Nachbarzimmer. Es ist das gleiche Geräusch, das auch mein Füller macht, wenn ich ihn über das Papier bewege. Ich versuche zu bestimmen, woher das Geräusch kommt, was mir aber nie gelingt und während ich noch genauer hinhöre, wird es langsam lauter und kommt nicht mehr nur aus einer Richtung, sondern scheinbar von überall her aus dem Gebäude, verursacht von den Federn der anderen Besucher, die sich durch das Kratzen gegenseitig zum Schreiben drängen. Langsam wird es nun auch heller. Die Wände beginnen sanft zu leuchten, wellen sich und gleichen Membranen, über die sich die noch unleserlichen Konturen von Schriftzügen bewegen, wie die Luft in Atemzügen. Nach und nach werden die Wände auf sonderbare Weise transparent – ich kann nicht sehen, was in den anderen Räumen vor sich geht, aber ich kann die Umrisse dessen erkennen, was dort geschrieben wird. Das Geschriebene rinnt im ganzen Gebäude aus den Blättern, als wären Tinte und Papier kein Halt für die Worte, es läuft über die Schreibtische und tropft von dort auf den Boden, durchfließt in den bleichen Fasern des Teppichs die Flure und wandert unaufhörlich über die Wände des Gebäudes. Ich muss nur lange genug in die Dunkelheit starren, um es zu sehen und um schließlich einen der Texte lesen zu können.

Erst ist die Schrift noch verschwommen, mehr der Schatten von Worten, ähnlich einem Flüstern, das man nicht versteht, das aber so mahnend klingt, dass man sich ihm nicht entziehen kann, dem man unbedingt Folge leisten würde, wenn man es nur verstehen könnte. Aber nach und nach, je lauter und drängender das Schreiben der anderen Besucher wird, stechen einzelne Worte klar hervor, dann Satzteile und schließlich ein Text, der, immer wieder überlagert von anderen Schriften, um mich herum über die Wände läuft.

Nach dem Lesen ist es meine Aufgabe, den Text aufzuschreiben und dabei möglichst unzuverlässig vorzugehen. Es geht nicht darum, den Text zu kopieren, sondern ihn neu und anders zu verfassen. Niemand hat mir gesagt, dass ich so vorgehen soll, aber es ist die einzige Möglichkeit, die ich habe, denn die Worte kommen zu schnell über die Wand, um sie zugleich notieren zu können, also muss ich warten, bis der Text vorübergelaufen ist und wieder nur Wortschatten zu erkennen sind. Dann erst kann ich mit dem Schreiben beginnen. Sobald ich die Kappe vom Füller nehme, mich vorbeuge und die ersten Worte aufschreibe, wird es unmöglich, das Gelesene in Ruhe zu lassen und während meine Hand von den Buchstaben über das Papier gezogen wird, stürzt sich etwas Lebendiges aus meinem Kopf auf die fremden Absätze, schiebt sich in sie hinein, manchmal mit Gewalt, dann wieder sanfter, aber immer gierig und unnachgiebig, sammelt sich in allen verfügbaren Zwischenräumen meiner Konzentration, bricht mit dem, was an der Wand geschrieben stand, öffnet und weitet es, tastet es nach Freiheitsgraden in allen vorstellbaren und unvorstellbaren Dimensionen ab, zwängt sich tiefer, schnüffelt, scharrt und schiebt mit verzweifelter Kraft, bis die Worte nur noch Hüllen sind, aus Lauten zusammengeschobene Formen, die allein stehen und für sich keinen Sinn mehr enthalten. Alles wird zerlegt, das meiste geht dabei verloren. Was übrig bleibt, ist sich gerade nicht fremd genug, um, verdreht und verworren, neu ineinander zu passen.

Was ich festhalte ist keine fehlerhafte Abschrift oder ein Plagiat. Es hat, im besten Falle, keine erkennbaren Ähnlichkeiten oder Verbindungen mit dem Original an der Wand. Andererseits: Es ist auch nichts, das etwas mit mir zu tun hätte, denn was am Ende vor mir auf den Blättern steht, ist mir ebenso unbekannt wie das zuvor Gelesene.

Schließlich lege ich das letzte beschriebene Blatt zur Seite und schraube den Füller zu. Es ist wieder still geworden. Still und dunkel. Ich stehe auf, rücke den Stuhl zurecht und gehe, ohne etwas zu sehen, zurück zur Tür.

Das Licht eines späten Abends erleuchtet den Flur, der Teppich unter mir wirkt verändert, farbiger als bei meiner Ankunft und es kommt mir so vor, als würde er jetzt mehr unter meinen Schritten nachgeben, als hätte er sich, während ich hier war, mit Wasser oder etwas anderem vollgesogen. Ich muss mich beeilen, sonst wird es Nacht und ich finde ich den Rückweg wieder nicht.