Grüne Bananen

Das Bild hängt im Museum, zwischen zwei anderen Gemälden des gleichen Malers. Es erinnert mich an den Wiener Westbahnhof. Es hängt in New York und es zeigt den Bahnhof Gare Montparnasse in Paris. So viele verschiedene Orte an einem Platz. Im vordersten Vordergrund des Bildes, so, dass man sie lange Zeit gar nicht wahrnimmt, liegt eine Staude grüner Bananen auf einem Block aus roten Ziegelsteinen. Der Weg, den die beiden Schattenmenschen nach oben gehen, wird nach unten hin immer breiter und fällt wie Licht auf die grünen Bananen. Und trotzdem sieht man sie erst gar nicht, so nah sind sie.

Ich gehe weiter. Nach de Chirico will ich mir erstmal kein Bild eines anderen Malers genauer ansehen, sondern durch die Räume streifen. Nach einigen Schritten bemerke ich, dass ich die Bananenstaude aus dem Bild mitgenommen habe. Sie hängt auf meinem Rücken und ich esse, ganz unbemerkt von mir selbst, eine der grünen Bananen. Eine Frau geht vorbei. Sie hat dunkles, langes Haar. Die Banane hat keinen Geschmack. Von der Schale bleibt nichts übrig, als ich den Inhalt gegessen habe. Die Frau mit den dunklen Haaren ist in einem der Nebenräume verschwunden.

Wien Westbahnhof geht mir nicht mehr aus dem Kopf und ich setze mich auf eines der Sofas, die mitten im Museum stehen und starre auf den Boden.

Immer wenn ich am Westbahnhof mit meinem Gepäck die Rollentreppen zur oberen Bahnhofshalle hoch fuhr und zum Bahnsteig vier ging, wo der Zug aus Budapest wartete, nahm ich eine Staude grüner Bananen mit. Die Bananen hingen in der Bahnhofshalle. Niemand hat sie gesehen. Selbst ich nicht, aber sie waren für mich und ich nahm sie immer mit. Der Zug startete in Budapest, fuhr über Wien, München, Stuttgart und vielen anderen Orten, nach Paris. So viele Orte. Ich vermute, dass er im Gare Montparnasse seine Endstation hatte, denn von dort kommen ja die grünen Bananen, wie ich jetzt weiß.

Dann im Zug habe ich die erste grüne Banane gegessen, meist kurz nach St. Pölten. Ich erinnere mich an den Geruch meiner Finger – der von ganz etwas anderem herrührte, als von grünen Bananen. Der Geruch meiner Finger hat mich seither oft beschäftigt, aber niemals mehr so, wie damals, im Zug zurück nach München. Dann stand ich auf und ging gegen den Zug an.

In einem veranschaulichenden Beispiel zur Relativitätstheorie lernen wir den Mann im Zug kennen, der entgegen der Fahrtrichtung geht und denkt, er bewegt sich voran. Vielleicht will er zum Speisewagen. Vielleicht. Oder er hat gerade festgestellt, dass er ja gar nicht mit dem Zug zu fahren braucht, weil er vielleicht, im falschen Zug sitzt. Oder weil er gar nicht von da weg will, von wo er sich gerade fortbewegt. Vielleicht. Die Beweggründe des Mannes sind der Relativitätstheorie ja auch egal. Die Relativitätstheorie trifft keine Aussagen über grüne Bananen, jedenfalls nicht, dass ich wüsste.

Für den zweiten Mann aber, der draußen steht und den Zug an sich vorbeifahren sieht, ist es offensichtlich, dass die Waggons mit hoher Geschwindigkeit von Wien Westbahnhof nach München Hauptbahnhof unterwegs sind und egal, wie der erste Mann im Zug sich auch gegen die Fahrtrichtung anstrengt, er fährt viel schneller nach München, als dass er nach Wien laufen könnte. Dank der grünen Banane konnte ich immer beide Männer zugleich sein, der, der vorwärts zu gehen hofft und der, der darüber nur den Kopf schüttelt, weil er den anderen rückwärts fahren sieht.

Ich sitze auf dem Sofa. Mein Blick ist auf den Boden gerichtet, damit mich die Bilder nicht ansehen. Die Staude liegt neben mir und ich esse schon wieder davon.

Später bin ich noch einmal in München in den gleichen Zug aus Budapest ein– und in Stuttgart wieder ausgestiegen. Das war des Nachts. Du hast mir, als ich schon auf dem Bahnsteig in Stuttgart stand, ohne dass wir es beide bemerkt hätten, eine große Staude grüner Bananen in den Arm gelegt. Dann fuhr der Zug weiter.

Jeden Tag esse ich eine von den grünen Bananen. Manchmal auch mehrere. Dann sehe ich in mein Postfach. Oder ich geh auf der Straße herum und sehe Menschen vor Hoteleingängen warten. Das passt alles nicht hierher und ich weiß gar nicht, ob es von Helsinki aus einen Zug gibt, der im Gare Montparnasse endet. Oder im Wiener Westbahnhof oder auf einer Insel, irgendwo ganz wo anders. So viele Orte. Es ist ja auch nicht wichtig. Vielleicht. Ich habe ja die grünen Bananen.

Inzwischen bin ich wieder zu Hause und nicht mehr in dem Museum mit den Bildern, aus denen ich allerhand Gegenstände mit mir herumtrage. Es ist jetzt wieder Nacht und ich steige die Treppe hinab, die sich immer enger in meinen Hinterhof wendelt. Unten angekommen, sehe ich die Birkenbäume und die Fahrräder, die bald dem Winter Platz machen werden. Ich warte, bis mich der Bewegungsmelder nicht mehr bemerkt und das Licht aufgibt. Dann ist es dunkel. Und nach einiger Zeit sehe ich die erste Staude. Sie steht so nah bei mir, dass ich sie gar nicht sehen konnte, im Licht. Dahinter ist noch eine und nach kurzer Zeit stehe ich auf den Zehenspitzen, aber ich kann es dann schon nicht mehr ermessen, wie weit sich die Plantagen aus grünen Bananen über den Horizont hinaus ausstrecken.

Alles ist dann ruhig. Die Züge harren, die Bahnhöfe lassen sie nicht mehr aus und die Beispiele zur Relativitätstheorie schlafen bewegungslos. Überall dunkeln grüne Stauden. Ich nehme mir eine von den Bananen, brech sie vorsichtig ab, und esse sie.

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