Rückkehr

Das ist der letzte Hügel. Ganz sicher! Vor etwas mehr als einem Kilometer bin ich an einem Ortsschild vorbeigefahren und oben auf der Kuppe ragt eine Straßenlampe auf. Das muss einfach der letzte Hügel vor der Ortschaft sein. Sonst geh ich ein. Klick Klick Klick - leichtester Gang eingelegt und dann hoch treten, immer schön gleichmäßig.

Vier Tage Fahrradtour durch Finnland ziehen an meinen Waden. Heute Früh bin ich in Imatra gestartet, das liegt jetzt ungefähr 125 Kilometer hinter mir. Und die letzten 30 Kilometer hatten es in sich. Plötzlich waren da Hügel. Zuerst nur einer, dann immer mehr. Manchmal sah man schon beim Rauffahren, dass es dahinter nur kurz bergab ging und danach gleich nochmal hoch, noch höher. Und das mitten in Finnland! Damit rechnet doch niemand!

Die Sonne meint auch, sie müsse immer noch auf mich runter brennen. Es ist 18 Uhr! Mir hängt der Schweiß als Salzkruste am Körper, die man abziehen und als Mineralbrausetabletten verkaufen kann. Ich will was zu Essen. Seit Stunden fahre ich einsame Straßen und nirgendwo - überhaupt gar nirgends auch nur die Andeutung einer Ortschaft. Anfangs gabs da wenigstens noch ein paar Hütten in denen man sich Kaffee und Müsliriegel kaufen konnte. Aber auf den letzten 60 Kilometern ist mir nicht mal eine Tankstelle begegnet.

Oh Mann und dieser Hügel zieht sich. Mein rechtes Knie knirscht schon. Gebt mir eine Dusche, einen Topf Nudeln, ein Bett. Der Körper gibt die letzten Wasserreserven frei und drückt sie mir aus den Poren. Jeder meiner Atemzüge ist nunmehr laut und deutlich bis an die russische Grenze vernehmbar.

Ich schaff das. Ich schaff das. Ich bin eine Naturgewalt. Atmen! Treten! Atmen! Treten! Der Oberkörper ruckt im Takt der Pedale vor und zurück. Der Arsch brennt seit zwei Tagen so sehr, dass ich es nur noch in Ausnahmefällen wage ihn zu heben oder gar abzusteigen, weil dort jede Positionsveränderung Feuerschwaden durch Körper und Verstand jagt.

Ich schaff das! Himmel - Fuck - Dreck! Es geht! Wofür verdammte Scheiße nochmal mach ich das eigentlich? Weiter! Treten! Schau, da vorne steht ein Haus. Tatsächlich – da steht etwas, das wie ein Gebäude aussieht. Oder halluziniere ich bereits?

Vorhin wäre ich beinahe hingefallen, die Hand ist mir, verschwitzt wie sie war, vom Lenker gerutscht. Das hätte sich gelohnt - irgendwo im Nirgendwo auf der Straße liegen und hoffen, dass der nächste Autofahrer, der in höchstens 20 Minuten zu erwarten gewesen wäre, nicht über mich drüber rollt sondern Mitgefühl empfindet. Noch drei, noch zwei - noch eins - oben!

Vor mir senkt sich mein Hügel, den ich gerade erobert habe, in eine Kleinstadt hinab. Links und rechts von der Straße stehen gelbe, braune, rosarote finnische Holzhäuser, sogar einen Gehsteig gibt es. Ich schalte mehrere Gänge zurück und muss kaum mehr treten, um mein Rad voran zu bringen. Langsam und vorsichtig hebe ich meinen Hintern aus dem Sattel, verschlucke die Schmerzensschreie und verziehe lediglich mein Gesicht in einer Abfolge von menschenunähnlichen Grimassen.

Außer mir gibt es hier keine Bewegung, nur die Hitze lässt die Luft flirren. Über allem hängt weiterhin die Stille, die mir seit Stunden schwer in den Ohren liegt.

Und dann sehe ich sie. Sie überquert weiter vorne die Straße. Ich falle fast vom Rad. Mit allem hatte ich jetzt gerechnet, nur nicht mit einem Menschen. Nur nicht mit einer Frau. Sie ist zu weit weg, als dass ich sie genauer erkennen könnte. Ihr Haar ist rot, ihre Bluse hellgrün und dazu trägt sie eine blaue Jeans. In mir steigt etwas auf, das aus meinen Augen als Tränen herauslaufen möchte.

Ich hole tief Luft, steige mit dem rechten Fuß ins Pedal und dann zieht mich Schwesterchen Schwerkraft den Hügel hinab. Weiter gibt es nichts mehr zu tun. Nur noch sitzen und das Rad rollen lassen. Sie geht den Hügel hinab. Ich rolle dicht hinter ihr. Dann trifft mich ihr Geruch und mir offenbaren sich alle Vorzüge der Zivilisation, die unsere Vorfahren in jahrzehntausendelanger Kleinarbeit errungen haben. Ich kann nicht anders, ich stöhne auf. Sie dreht ihren Kopf zu mir, sieht mich und lächelt. Und dann bin ich auch schon an ihr vorbei.

Dafür also habe ich das gemacht.