Der Aufschub

Ich habe eine Weile auf dem Balkon gesessen, aber da ist es noch heißer als hier in der Wohnung, wo der kleine Ventilator auf dem Schreibtisch versucht mich zur Arbeit zu ermuntern. Er rennt vergebens gegen die Schwüle an, die sich immer tiefer in die Tuffsteinmauern hineingräbt. Ich habe Kopfweh und je mehr ich an den Abgabetermin denke, desto schlimmer wird es.

Marie wird nicht begeistert sein, wenn ich ihr sage, dass ich das Manuskript nicht vor Eintreffen eines skandinavischen Tiefs fertigstellen kann. Wie konnte sie mir auch für die Sommermonate einen achthundertseitigen Roman zum Übersetzen geben? Freilich lieben wir beide den Autor, aber alle Gefühlsstürme, sogar die literarischen, haben ein Ende wenn das Thermometer in fieberschwere Höhen klettert. Achthundert Seiten! Es ist August und ich stolpere noch immer im ersten Drittel herum. Marie muss meine Fähigkeiten mehr als nur überschätzen um noch mal Gnade walten zu lassen.

Meine Nachbarin fängt zu schreien an. Frau Silvia Neumann, circa 40jährige alleinerziehende Mutter zweier Töchter und von attraktiver Erscheinung, schreit immer laut und lange wenn sie Männerbesuch hat. Ihre Lust findet vermutlich auch noch andere Ausrucksformen, meinen Erfahrungshorizont hat sie diesbezüglich aber bisher nur rein stimmlich erweitert. Seit über drei Jahren wohnt sie im Reihenhaus neben mir und berät dort zuhauf junge Frauen, die sich alle mit den immer gleichen Problemen, den Herzbuben betreffend, an sie wenden. Mit Hilfe von Pendel, Geburtshoroskop und Räucherstäbchen gibt sie dann die Antworten, die das Universum für derartige Härtefälle seit jeher bereit hält. Sie ist eine elegante Surferin auf der Weichspülerwelle postmoderner Sinnsuche.

Kurz nachdem sie eingezogen war haben wir uns ein paar Mal unterhalten und danach hatte ich immer ein paar Illusionen über die Menschheit weniger. Ihre Auffassung von Symbolen und Mythologie war offenbar nie über die Comicliteratur der 70er Jahre hinausgewachsen, in der sich Thor und Herkules diverse Stelldichein gaben. Nach diesen Gesprächen habe ich die Tarotkarte der Sonne, die bis dahin groß als Bild zwischen den beiden Fenstern meines Arbeitszimmers hing, abgenommen, da sie mich unentwegt daran erinnerte, dass Silvia Neumann und ich etwas gemeinsam hatten. Und jetzt strafte sie mich für meine Überheblichkeit mit rhythmischen Schreien von jenseits der Trennwand unserer Häuser.

Meine Augen starren auf Seite zweihundertvierundvierzig des aufgeschlagenen Romans, fixieren ein Wort im mittleren Absatz, krallen sich daran fest und schwören mir, es erst dann loszulassen wenn ich es und den ganzen Satz drum herum übersetzt habe. Aber der Steppenbrand in meinem Hirn lässt die Druckerschwärze flimmern und frisst sie schließlich wortlos auf.

Ich schwitze, mein Kopf dröhnt und Frau Neumann plärrt sich die Erregung aus dem Leib. Und das alles um drei Uhr Nachmittags. Egal wohin ich mich in diesem Haus flüchte, die Sonne bleibt mir mindestens noch vier Stunden erhalten.

Ich schwanke ob ich meine vierte kalte Dusche oder das erste Bier aus dem Kühlschrank nehmen soll. Beides wird mir nicht helfen. Mir kann gar nichts helfen. Nur ein Aufschub.

Ich male das Wort Aufschub mit einem schwarzen Kugelschreiber auf den oberen Rand von Seite zweihundertfünfundvierzig und hoffe dabei auf ein Wunder als es an der Tür klingelt. Um diese Zeit kann das nicht mal mehr der verspätete Paketdienst sein, aber ich hab nicht mehr die Kraft mich groß zu wundern, wer sich heute noch um mich bemüht. Also trotte ich missmutig die Treppe hinab und öffne die Tür. Da steht Marie und strahlt mich an.

"Du bist schon zu Hause? Ist der Verlag abgebrannt?"

"Lass mich schon rein, Hungerleider".

Vor etwas mehr als fünf Jahren habe ich Marie und ihrem Mann Herbert das Haus am anderen Ende des umgebauten Bauernhofes vermittelt, in dem wir jetzt gemeinsam mit Frau Neumann und zwei weiteren Familien leben. Seither gab mir Marie, die damals gerade meine Chefin geworden war, immer ihre Favoriten zur Übersetzung.

Ich trete zur Seite und lass sie rein.

"Ist aber nicht aufgeräumt."

"Als ob es das schon mal gewesen wäre." Sie geht vor mir die Treppe hinauf. Ein dunkelgelbes Kleid liegt eng an ihr und gibt lange vor den Knien auf ihren Körper zu bedecken. "Weißt du wer da so einen Krach veranstaltet?" Unsere Nachbarin legt sich gerade in einen langgezogenen Schrei, der nach Schmerz klingt aber nicht Schmerz meint.

"Die Neumann natürlich."

"Schon klar. Aber weißt Du, wer sie so zum Schreien bringt?"

"Anfang des Jahres wars jedenfalls der Italiener vom Sasso."

"Der ist es aber nicht mehr." Sie bleibt am Ende der Treppe stehen und dreht sich zu mir um. Ich mache eine Stufe unter ihr Halt und sehe ihr in die Augen.

"Ich hab keine Ahnung Marie."

"Herbert," ihre Handgelenke kommen auf meinen Schultern zum Liegen, sie stützt sich keck auf das linke Bein und kommt mit ihrem Gesicht meinem ganz nahe. Sie flüstert "mein lieber, mir angetrauter Herbert" und küsst mich während die Geräusche nebenan in einem heiseren Seufzer ausklingen.

Es ist zugegebenermaßen nicht das erstemal, dass wir uns küssen. Aber weiter sind wir bisher nicht gekommen und während unsere Lippen sich aneinander festklammern fehlt mir für einen kurzen Augenblick etwas, das uns vorher immer auf letzte Distanz gehalten hat. Langsam fassen meine Hände ihre Hüften und ziehen sie zu mir.

"Bist du nicht schockiert? Oder enttäuscht? Oder zumindest wütend auf ihn?" frage ich und küsse zwischen den Worten ihren Hals.

"Ich dachte es mir schon seit ein paar Wochen und heute hab ich mir seine Handyrechnung in den Verlag mitgenommen. Er ruft sie jeden Tag mindestens zwanzigmal an. Er muss total verrückt sein nach ihr. Was hab ich nicht gehofft für ihn, dass er endlich wieder ein wenig Leidenschaft empfindet," ihr Gesicht strahlt und sie sprudelt munter weiter Sätze aus sich heraus, während sie mich an der Hand nimmt und in mein Schlafzimmer führt "und dabei hat es nur eine kleine Astrologin gebraucht um ihn wieder ins Leben zurückzuholen. Wir haben doch seit Äonen nichts mehr miteinander gehabt – ich wär ja fast schon selbst zur Neumann gegangen um mit ihr die Sternen um Hilfe anzubetteln. Und weil ich nie zu ihr kam hat sie es wohl ganz ohne mich in ihre Hände genommen. Jetzt hilf mir schon endlich mit dem Reißverschluss."

––

Später wachen wir gemeinsam auf. Ein Hauch abgekühlter Luft hat sich durchs offene Fenster zu uns erbarmt. Es ist dunkel Draußen und ihr Körper glüht nackt auf der Bettdecke neben mir. Meine Hand legt sich ohne mein Zutun sanft auf ihren Bauch. Ich darf fühlen wie sie atmet.

"Marie, ich muss dich um etwas bitten."

"Du brauchst keine Angst haben, ich zieh nicht bei dir ein" flüstert sie und lächelt.

"Nein, das habe ich weder gehofft noch befürchtet. Es geht um den Roman."

Sie dreht ihren Kopf zu mir und lächelt: "Ja?"

"Ich brauch nen Aufschub."

"Oh, mein Provisionsarbeiter ist in einer Notsituation. Wäre es sehr unmoralisch diese auszunützen?"

"Sicher" sage ich und lege mich an ihren Körper. "Du darfst mich leiden lassen, Chefin, lange und ausgiebig."

"Oh ja!"

––

Als sie wieder schläft wandert noch mal die Neumann durch meine horizontlosen Gedanken. Sie weiß gar nicht, was für einen Gefallen sie mir, uns allen, heute getan hat. Die Möchtegernhexe hat, beseelt von ihrer Triebhaftigkeit, einen großen Zauber gewirkt.

Leise schleich ich mich aus dem Bett und weiter ins Arbeitszimmer, wo ich ein Bild wieder aufhängen werde.