Lesung

Das Kaffeehaus ist voll. Ich bin einer von vielen, der vor dem einsetzenden Regen hierher flieht. Nur vereinzelt steht noch ein freier Stuhl an einem der Tische.

Das erste, was ich von ihr sehe ist die Handbewegung: sie streicht ein Wort. Sie sitzt an einem der Ecktische und beugt sich über beschriebenes Papier. Ihren Kopf in ihrer linken Hand und in der Rechten einen Kugelschreiber, den sie mit einigem Abstand über das Papier bewegt. Jetzt streicht sie das nächste Wort. Rauch hängt in der Luft und ich bewege mich durch den Lärm und die Herumsitzenden auf sie zu.

"Kann ich mich hier setzen?" frage ich.

Sie blickt zu mir hoch und nickt. "Ja, gerne" sagt sie und konzentriert sich wieder auf die Blätter, die vor ihr liegen.

Nach dem dritten Winken wird der Ober auf mich aufmerksam und ich bestelle das Übliche. Ein Buch habe ich genauso wenig bei mir wie einen Regenschirm. Außer hier zu sitzen und ihr zuzusehen, gibt es an diesem Nachmittag nichts für mich zu tun.

Neben ihr steht eine fast volle Tasse Kaffee, die sie nicht angerührt hat, seit ich mich zu ihr gesetzt habe. Sie legt eines der einseitig beschriebenen Blätter auf den Tisch. Ich versuche, das Geschriebene zu lesen, aber dann nimmt sie das Blatt wieder weg und steckt es hinter die anderen.

"Entschuldigung" sagt sie und sieht mich dabei an. Vermutlich hat sie gedacht, das Blatt läge mir auf unserem kleinen Tisch im Weg. Für etwas, das ein ganzer Moment sein könnte, zögert sie, dann bringt mir der Ober meine Bestellung und sie liest wieder weiter.

Ich trinke einen Schluck, versuche, sie nicht allzu auffällig zu beobachten, und denke darüber danach, was sie da wohl so sorgfältig liest. Bisher habe ich kein einziges Wort &emdash; sie streicht schon wieder eines &emdash; davon lesen können.

Nun legt sie den Stift zur Seite und steht auf. Ohne sich suchend umzusehen geht sie auf die Toiletten am anderen Ende des Raumes zu. Sie kennt sich anscheinend aus hier. Vermutlich wohnt sie in der Nähe und kommt öfters her.

Die Blätter liegen auf dem Tisch. Das, was sie da so konzentriert gelesen hat, wartet einen Handgriff entfernt, gleich hinter meiner Tasse. "Seite 2" steht da &emdash; das kann ich gerade noch lesen, obwohl die Schrift kopfsteht. Demnach müsste Seite eins die letzte in dem kleinen Stapel sein. Es bleibt mir nicht viel Zeit, um herauszufinden, ob ich richtig vermute.

Ich greife über den Tisch und nehme die Blätter. Es sind vielleicht sieben, höchstens zehn und ich drehe sie um und will das hinterste Blatt nehmen &emdash; da kommt mir mein Daumen dazwischen.

Das scharfkantige Papier der ersten Textseite schneidet mir, von der Spitze bis zum Gelenk, den rechten Daumen auf. Die obere Ecke des Blattes wird rot. Ich zieh die Hand zurück und bevor ich den Daumen in den Mund nehmen und an seiner Innenseite saugen kann, tropft Blut auf den Tisch, auf das Unterteller, in die Tasse. Ich lege den Papierstapel auf den Tisch zurück und werfe aus dem Augenwinkel einen Blick auf die erste Zeile, während ich nach den Taschentüchern in meiner Jacke taste.

"Es dürfte keine Möglichkeitsform geben." steht da. Keines der Worte ist durchgestrichen. Ich starre den Satz an und fische mit der linken Hand ein Papiertaschentuch aus der Verpackung. Es dürfte keine Möglichkeitsform geben. Wer schreibt sowas?

Der Schnitt lässt mich jeden Herzschlag spüren. Ohne dass ich etwas dazutun müsste, wird der Ober im Vorbeigehen auf mich aufmerksam, bleibt vor mir stehen und betrachtet schweigend meinen Daumen, der nun ein weißes Taschentuchkleid trägt, das er langsam rot pocht.

"Haben sie ein Pflaster?" frage ich.

"Denken Sie, dass das reicht?" entgegnet er, ohne aufzusehen.

"Ich hab mich ja nur an einem Blatt Papier geschnitten" sage ich.

"Papier kann tief schneiden." Der Satz hängt im verrauchten Raum und noch bevor ich ihn ganz begreife, weiß ich, dass ich über diesen Kaffeehausober und seine Lebensweisheit noch nachdenken werde. "Hinten, in der Küche &emdash; da haben wir Verbandszeug" sagt er und geht dann weiter seine Kaffeehauswege. Vorsichtig lege ich die Blätter zurück auf ihren Platz und gehe zur Küche.

Als ich zurückkomme, kleben auf meinem Daumen zwei Pflaster, die mir ein anderer Ober quer über die Schnittwunde gelegt hat. Sie sitzt wieder auf ihrem Platz.

"Ist Ihnen etwas geschehen?" Sie sieht mich an.

"Ja &emdash;", jetzt wäre noch Gelegenheit sie anzulügen, "ich habe mich an einem Deiner Blätter geschnitten."

"Wie das?"

"Ich wollte lesen, was Du schreibst."

"Weshalb interessiert Sie das?" fragt sie.

"Das ist jetzt nicht wichtig – Du wirst mir den Text zusenden." Das brennende Pochen des Daumens lenkt mich von meiner üblichen Zurückhaltung ab und ich sage den Satz ohne nachzudenken.

"Was?"

Ich nehme ihr den Stift aus der Hand und schreibe an den Rand des obersten Blattes eine Nummer. "Du sendest das bis Samstagmittag an dieses Fax."

"Aber das ist doch noch gar nicht fertig."

"Dann bring es so weit wie möglich fertig. Samstagmittag habe ich den Text." Ich nehme einen Zehner aus der Brieftasche und lege ihn auf den Tisch. "Bezahl damit unsere Kaffees."

"Danke." Sie blickt auf das Blatt, auf meine Faxnummer und bevor sie mich nochmal ansehen kann, bin ich auf dem Weg durch den überfüllten Raum, zurück in den Regen. Der Tag ist ein Montag. Ein Montag voller Möglichkeiten.

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Es ist Donnerstag. Seit Montagnachmittag regnet es. Ich stehe am Fenster und sehe den Schirmen beim Herumlaufen zu. Die meisten von ihnen haben die Farbe des Asphalts und je länger ich die Straße beobachte, desto weniger heben sie sich von ihr ab.

Die beiden Pflaster, die mir der Ober angelegt hat, sind trotz Händewaschens und Duschens nicht abgegangen. Ich beginne an ihren Rändern zu zupfen, während ich mir vorstelle, wie sie in ihrer Wohnung vom Regen gefangen gehalten wird. Seit Montag. Vielleicht geht sie ab und zu ins Kaffeehausm um ein paar Worte zu streichen. Sie wird weiter schreiben, sie wird mit den Worten kämpfen und sie wird mir am Samstag ein Fax senden.

Ich halte die beiden Pflaster in der linken Hand, sie haben schwarze Ränder an meinem rechten Daumen hinterlassen. Der Schnitt blutet nicht mehr, aber ich werde ihn noch einige Tage spüren, wenn ich nach etwas greife.

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Das Anfahren des Druckkopfes lässt mich zusammenzucken. Es ist das Geräusch, das mir anzeigt, dass ein Fax eingeht. Er bewegt sich einmal über die gesamte Länge der Führungsschiene. Dann zieht das Gerät das erste weiße Blatt ein.

Es ist Samstag, elf Uhr vormittags. Habe ich Mittag zu ihr gesagt oder zwölf Uhr? Ich weiß es nicht mehr, es ist beides gleich gut möglich.

Ich verbiete mir vom Fenster weg zu gehen. Wie am Montag, wie an allen Tagen seit Montag, sind da Draußen die Regenschirme, die Straße, der Himmel und die Häuser. Der Ausblick hat mir bis jetzt gereicht, weshalb sollte er nun zu wenig sein?

Ich stelle mir vor, wie sie in einem Copyshop steht und jedes Blatt einzeln in ein Faxgerät einlegt, genau jetzt, während ich hier stehe. Und wie sie sich dann vergewissert, dass alle Seiten erfolgreich gesendet wurden.

Der Druckkopf fährt wieder auf die Warteposition zurück, das letzte Blatt wird freigegeben und ich drehe mich um. Auf dem kleinen Tisch liegen sechzehn Blatt Papier, wenn ich richtig mitgezählt habe. Ich hab richtig mitgezählt, daran gibt es keinen Zweifel. Das erste Blatt hat an der rechten oberen Ecke einige Flecken. Die Kopie meines Blutes.

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Es ist Montagabend. Sie kam ins Zimmer, hing ihre Jacke an die Garderobe und nahm dann die Blätter aus ihrer Handtasche. Sie hat den Kopf nicht gehoben, nicht weiter in den Raum geblickt, nichts gesagt &emdash; genau so, wie ich es ihr geschrieben hatte.

Auf dem letzten der sechzehn gefaxten Blätter stand ihre e-Mail-Adresse, sonst nichts. Ich habe mir Zeit gelassen, ihr zu antworten.

Fünf Tage hatte es gedauert, danach konnte ich die Geschichte beinahe auswendig, mir genügten zwei, drei Worte und schon spürte ich den Rhythmus des Absatzes und konnte, ohne auf das Papier zu sehen, die Sätze weiterführen. Dann habe ich ihr geschrieben. Wann sie wohin kommen soll, wie sie sich anzuziehen und hinzustellen hat, dass sie mir vorlesen muss und sonst nicht sprechen darf, bis sie nicht fertig gelesen hat.

Jetzt steht sie neben mir. Neben dem Sessel, in dem ich sitze. In ihren Händen hält sie die Blätter, die sie mir vor über einer Woche geschickt hat. Sie zögert &emdash; sie weiß nicht, wann sie anfangen soll zu lesen. Ich blicke an ihr hoch, sehe, wie sie atmet, wie sie versucht, mich nicht anzublicken, ihre Augen immer wieder unsicher auf die Blätter richtet. Dann lege ich meine Hand vorsichtig an ihren Oberschenkel.

Die Blätter rascheln, als wären sie elektrisch aufgeladen. Meine Fingerspitzen berühren kaum die Innenseite ihres Beines. Ich bewege meine Hand langsam nach oben, spüre ihr Zittern, höre sie lauter atmen und sehe, wie sie die Augen schließt.

Es hat einige Tage gedauert, bis mein Daumen, der jetzt langsam in sie eindringt, nicht mehr schmerzte und ich wieder alles anfassen konnte, ohne an das Kaffeehaus erinnert zu werden. Ihr Körper ist angespannt, aber sie wehrt sich nicht, steht ganz gerade neben mir, hält meinen Daumen vorsichtig fest, räuspert sich schließlich und legt ihre linke Hand auf den Rücken, wie ich es ihr geschrieben habe.

"Es dürfte keine Möglichkeitsform geben." beginnt sie leise.

Die Worte gehen durch ihren Körper. Den Text kenne ich auswendig &emdash; ich höre ihre Stimme und bin bei ihr, bei ihrer Geschichte, ihren Worten, die sich um meinen Daumen zusammenziehen, ihn nur zwischen den Absätzen kurz loslassen. Wenn ihr Herz schlägt fühlt sich das an, als würde mein Daumen noch bluten. Ich nehme alles wahr in ihr &emdash; die Bewegung, wenn sie die Hand vom Rücken nimmt, um umzublättern, das Ziehen, wenn sie Luft holt, den Rhythmus ihrer Stimme, ihre Geschichte, die immer weiter über die Worte hinaus drängt, sich ins Fleisch drängt. Und dort gibt sie sich nicht mehr damit zufrieden, nur vorgelesen zu werden.

Schließlich schafft sie es nicht mehr, ihre Hand auf den Rücken zurück zu legen, haltsuchend greift sie nach meiner Schulter, flüstert noch einen Absatz, stolpert dann in einen Ton hinein, der kein Wort mehr ist und als ich meinen Daumen tiefer in sie drücke, packen ihre Finger meine Schulter fester. Sie liest nicht mehr und ich fühle weshalb, sehe zu ihr hoch und beobachte sie. Mitten zwischen den Zeilen hat sie den Halt verloren und lässt die Blätter trotzdem nicht los. Sie drückt sich gegen meinen rechte Hand, stützt sich auf meine Schulter, hält sich an den Worten fest, legt schließlich ihren Kopf an meinen und bleibt so stehen, bis ihr Zittern nachlässt und sie wieder normal atmet.

Langsam richtet sie sich wieder auf, atmet tief aus, legt das Blatt nach hinten. Ihre Wangen glänzen. Ich bin noch immer in ihr – es fühlt sich jetzt anders an, wärmer, vertrauter. Sie liest weiter, bis ans Ende der letzten Seite und bleibt dann still neben mir stehen.

Vorsichtig befreie ich meinen Daumen. Ich stehe auf und geh ans Fenster, hinter dem es Nacht ist. Drei Straßen weiter ist ein Bürogebäude blau erleuchtet. Daneben hängt der Mond recht rund in einer Wolkenlücke. Es hat aufgehört zu regnen.